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Kurzgeschichten

   

Ein Tag im Sommer

Es war eine warme Sommernacht. Das kleine Mädchen lag in seinem Bettchen und bemühte sich einzuschlafen. Aber eine ungewöhnliche Unruhe und Nervosität erfüllte diese Nacht.
Seit Tagen schon benahmen sich die Großen so merkwürdig. Ständig redeten sie ganz aufgeregt über Dinge, die das kleine Mädchen nicht verstehen konnte. Lediglich die Angst, die in allen Gesprächen mitschwang, konnte es sehr deutlich spüren. In dieser Nacht wurde aus der Angst Panik.
Das kleine Mädchen klammerte sich an seinen Stoffbären und versuchte der unangenehmen Geräuschkulisse, die seine Mutter und seine Großmutter verursachten, zu entfliehen. Ohne Erfolg. Mittlerweile klang selbst die Stimme des Nachrichtensprechers ängstlich. Das Fernsehgerät lief in diesen Tagen ununterbrochen, Tag und Nacht. Die Großen saßen davor, lauschten ganz angestrengt, redeten plötzlich alle durcheinander, um sich dann wieder völlig auf den Nachrichtensprecher zu konzentrieren.
Wenn auch das kleine Mädchen die Geschehnisse nicht verstehen konnte, so drang aber ein Wort immer häufiger in sein Bewußtsein: Gefahr.

Im Morgengrauen - das erste Gezwitscher der Vögel erfüllte die Luft und alles erschien so friedlich - weckte die Mutter das kleine Mädchen. "Komm schnell, du mußt dich anziehen, wir fahren weg!" Die Mutter zitterte, ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie packte hastig ein paar Anziehsachen in eine kleine Tasche, nahm ihre Tochter auf den Arm und lief mit ihr aus dem Haus.
Mit dem Fahrrad fuhren die Beiden durch die menschenleeren Straßen der Stadt. Schon oft hatten Mutter und Tochter gemeinsam Ausflüge unternommen. Waren gemächlich an blühenden Sommerwiesen vorbei geradelt zum Badesee oder in den Wald. Immer ein fröhliches Lied auf den Lippen, lachend und voller Freude.
Dieses Mal war der Ausflug aber vollkommen anders. Niemand lachte, niemand sang. Die Mutter hetzte schweigend durch die Straßen. Trotz des strahlend blauen Himmels schien alles irgendwie düster, und in der Ferne war Donner zu hören. Das kleine Mädchen saß verschreckt in seinem Kindersitz, völlig übermüdet von der schlaflosen Nacht, und begriff immer noch nicht, was eigentlich passierte.
Während die Sonne immer höher kletterte, verließen Mutter und Tochter die Stadt. Eine unnatürliche Stille umgab die Beiden, nur unterbrochen von einzelnen Schluchzern der Mutter und dem Geräusch des sich nähernden Donners.

Die Sonne stand im Zenit, als das kleine Mädchen plötzlich aufschreckte. Ein mörderisches Krachen und Grollen erschallte von überall her. Schwarze Rauchwolken stiegen auf. Vor sich sah das Mädchen ein gewaltiges, metallenes Ungetüm auf sich zurollen.
So etwas hat es noch nie gesehen. Das Ungeheuer deutete mit seinem gewaltigen Finger genau auf Mutter und Tochter.
Die Mutter schrie auf und riß das Fahrrad herum. Die Beiden stürzten einen Hang hinab und blieben in den Büschen liegen. Die Mutter drückte mit ihrem Körper das Kind auf den Boden. "Nicht bewegen!" hauchte sie mit zitternder Stimme. Regungslos lauschte das kleine Mädchen dem vorbei rollenden Ungeheuer, und immer wieder ertönte dieser ohrenbetäubende Krach. Nein, das war kein Donnergrollen vom Gewitter ... das waren Schüsse. Dessen war sich das Kind nun absolut sicher.
Es hörte, wie das Ungetüm ganz nah an ihm vorbeirumpelte. Es spürte die Erde unter seinem kleinen Körper beben während das metallene Monster sich schleppend weiter fortbewegte und immer wieder schoß.
Nach einer halben Ewigkeit - so schien es dem kleinen Mädchen - hatte sich das Getöse so weit entfernt, dass es wieder Ähnlichkeit mit einem Gewitter hatte.
Mutter und Tochter rappelten sich auf, schoben das leicht lädierte Fahrrad wieder auf die Straße und setzten ihre unglücksselige Reise fort. Nun wußte die Kleine, wovor die Großen so eine furchtbare Angst hatten. Es waren diese lärmenden Monster, die schossen und Menschen töten wollten. Eine beklemmende Angst machte sich in der Kleinen breit; eine Art Angst, wie sie sie in ihrem kurzen Leben bisher noch nie gefühlt hatte.

Am späten Nachmittag erreichten die Beiden einen Bauernhof. Das kleine Mädchen war nicht oft hiergewesen, aber die Menschen waren ihm auch nicht ganz fremd. Es wußte, die Frau war eine Art Tante, die zwei Kinder hatte. Die beiden Jungs waren viel größer als das Mädchen.
"Du bleibst jetzt hier bei deiner Tante. Ich muß wieder zurück nach Hause." erklärte die Mutter. Ein eisiger Schrecken überkam die Kleine. Sie sollte hier bleiben, bei den Menschen, die sie kaum kannte? Ohne ihre Mama? Weinend klammerte sie sich an ihre Mutter. Nein, nein, sie wollte nicht hier bleiben!
"Es ist doch nur für ein paar Tage. Hier ist es sicherer." tröstete die Mutter, "Du bist doch ein großes, tapferes Mädchen."
Sie drückte ihre Tochter der Tante in die Arme und ging ohne noch ein Wort zu sagen, fort. Nach einer Weile setzte die Tante die Kleine ab und schickte die Kinder nach draußen zum Spielen.

Es dämmerte bereits als die Kinder sich beim Spielen auf dem Feld so weit vom Bauernhaus entfernt hatten, dass es wie ein Puppenhaus wirkte. Das Feld war auf zwei Seiten begrenzt von dichten, dunklen Wäldern. Von dort waren auch immer wieder Schüsse zu hören. Bei jedem Knall zuckte das kleine Mädchen zusammen.
"Das sind die Russen!" sagte einer der Jungen.
Aha, so heißen die metallenen Ungeheuer also - Russen, dachte das Mädchen.
"Die fahren in die Stadt. Die kommen nicht hierhin. Du brauchst keine Angst zu haben!" behauptete der Junge voller Überzeugung.
Keine Angst haben?, wunderte sich die Kleine. "Hast du die Russen gesehen?" fragte sie.
Nein, der Junge hatte die Russen noch nicht gesehen.
Deshalb hat er auch keine Angst, dachte sie, ich habe aber schon einem Russen gegenüber gestanden, und der wollte mich totschießen.
Während die Jungen, unbeeindruckt von den Geschehnissen, auf dem Feld herumtobten, spielte das kleine Mädchen still vor sich hin. Verträumt wie immer, unterhielt es sich mit Marienkäfern, pflückte Gänseblümchen und versuchte die Erlebnisse des Tages aus dem Gedächtnis zu streichen.
Fast wäre es der Kleinen gelungen, an einen friedlichen Sommerabend zu glauben wenn nicht mit einem Mal wieder das gewaltige Krachen und Poltern so laut gewesen wäre. Die Russen mußten ganz nah sein. Die Kleine riß den Kopf hoch und suchte voller Panik nach den metallenen Monstern. Es war aber kein Russe zu sehen. Es war überhaupt niemand zu sehen. Nicht einmal die beiden Jungs waren mehr in der Nähe. Eine eisige Klaue schloß sich um das kleine Herzchen des Kindes. Es war ganz allein auf dem Feld. Ganz allein, und die Russen kamen! Bis zum sicheren Bauernhaus war es viel zu weit. Das Mädchen hätte über das ganze Feld laufen müssen. Viel zu weit. Zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, suchte es Schutz hinter einem Felsbrocken in der Hoffnung, dort würden die Russen es nicht finden. In Todesangst blieb die Kleine dort zusammengekauert liegen, erfüllt von nur einem einzigen Gedanken: 'Die schießen mich tot'!

Es war bereits dunkel als die Tante das kleine Mädchen endlich in seinem Versteck fand. Niemand konnte sich erklären, warum das Kind auf dem Feld geblieben war, anstatt ins Haus zu kommen. Das Kind konnte es auch nicht erklären, es war nur zu einer einzigen Aussage fähig, immer und immer wieder: "Die schießen mich tot ... die schießen mich tot ..."

Dieser Tag war das Ende des "Prager Frühlings".

 

© Marcela Langenbach, Februar 2006

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